Nicht wenige haben in den Tagen nach dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium an den 11. September 2001 gedacht und Parallelen gezogen. Spätestens seit dem Einmarsch der Amerikaner im Irak zum ‚Kampf gegen das Böse‘ denke ich nicht mehr so. Denn dann müsste der Bundeskanzler deutsche Truppen vor der Küste Kaliforniens in Stellung bringen, um Hollywood und das Silicon Valley zu bombardieren. Sind das nicht schlimme Brutstätten der Gewalt, die täglich in unseren Kinderzimmern konsumiert werden?
Ich vergleiche ‚Gutenberg‘ inzwischen eher mit Tschernobyl. Auch wenn es hier nicht so viele unschuldige Opfer gab, und dort keinen ‚Täter‘. Aber versagt haben bei beiden Ereignissen die Sicherungssysteme, die unsere menschliche Gemeinschaft vor Leid schützen sollten. So sehr Vergleiche von Katastrophen hinken, Erfurt ist ein gesellschaftlicher SuperGAU gewesen. Der Vergleich mit Tschernobyl hat für mich auch eine optimistische Vision. In Deutschland werden keine neuen Kernkraftwerke mehr gebaut und es besteht Hoffnung, dass Deutschland einmal ohne Atommeiler sein wird. Vielleicht schaffen wir Vergleichbares mit Waffen, Gewalt und Sprachlosigkeit.
Vor einem Jahr habe ich mir Fragen gestellt (->). Inzwischen gab es Antworten. Das Warum bleibt. Und neue Fragen kommen hinzu.
Warum hat keiner der Verantwortlichen nicht einmal seine starr mechanischen Vorschriften beiseite gelegt und seinen Kopf benutzt, um nüchtern zu analysieren, was in dieser Ausnahmesituation geschah und was zu tun wäre?
Nach 11.17 Uhr fielen keine Schüsse mehr im Gebäude. Dagegen soll man Hilfeschreie gehört haben.
Weil sie hoffnungslos überfordert waren? Weil sie glaubten, die schlechten Horrorvideos, die sie konsumierten, seinen war geworden? Warum glauben sie Schülern, die mehr als einen Täter gesehen haben? Wenn Sie aber Gebäudepläne brauchen, warten Sie viele unnötige Minuten, ohne sich das von Schülern erklären zu lassen. Weshalb reden Sie von einem unübersichtlichem Grundriss der Schule? Im Gegensatz zu den gängigen Plattenbauschulen ist sie räumlich klar aufgebaut. Wie wenig Vertrauen haben wir inzwischen zueinandern? Katastrophenschutz und Rettungsdienste haben gut funktioniert, warum haben Polizeiverantwortliche versagt? Warum vergleicht der Polizeichef Grube seine Tätigkeit mit dem Lottospiel? Warum wurde der Untersuchungsbericht so schnell durchgepeitscht? Wollten die juristischen Autoren nur Schaden von Thüringens Finanzkasse abwenden? Die Feststellung im vorläufigen Abschlussbericht, dass keines der Opfer hätte überleben können, hätte gemacht werden können, wenn wenigstens eines der Opfer auf einem OP-Tisch gestorben wäre. Diese Aussage ist nicht nur pietätlos, sie ist unmenschlich.
Lehrer pflegen und formen unseren Nachwuchs – sind also Gärtner unserer wertvollsten Früchte. Warum bringen wir ihnen heutzutage nicht mehr Respekt entgegen? Warum geben wir ihnen nicht mehr Zeit und Mittel, unsere Früchte gut reifen zu lassen?
Tom Hanks sagt als Sam in ‚Schlaflos in Seattle‘: „Aber wenn wir anfangen, uns nach dem Warum zu fragen, werden wir verrückt.“ Wenn wir nicht nach dem Warum fragen, hören wir auf zu existieren.
Ich habe inzwischen eine einfache Formel gefunden, die helfen kann, die Sprachlosigkeit und Entfremdung in unserer Gesellschaft zu verringern. Ein Thüringer Landtagsabgeordneter fand sie auf Schildern an den Türen in einer amerikanischen Schule in Augenhöhe der Schüler. Sie lautet: give respect, get respect. Meine Übersetzung ins Deutsche: Schenke Achtung, erfahre Achtung. So ähnlich hat ja auch der Bundespräsident am 3. Mai letzten Jahres auf dem Domplatz gesprochen: „Wir brauchen zweierlei: Wir müssen einander achten und wir müssen aufeinander achten.“
Hagen Frey
29. April 2003